Die holländische Kreuzung: „Das passt so – das ist unser Motto und Erfolgsrezept.“
19.01.2022 | Mobility
Sie sortiert die Verkehrsströme und macht Knotenpunkte sicherer für den Rad- und Fußverkehr. Das Konzept der geschützten Kreuzung stammt – wenig überraschend – aus den Niederlanden. Sjors van Duren ist Senior Consultant für Nachhaltige Mobilität und Experte für Fahrradmobilität bei Royal HaskoningDHV, einem renommierten niederländischen Consulting-Unternehmen für Nachhaltige Verkehrslösungen und Mitglied der Dutch Cycling Embassy. Wir haben mit dem Raumplaner gesprochen, der weltweit Verbesserungen auf die Straße bringt.
Hallo Sjors – die geschützte Kreuzung findet in Deutschland zunehmend Beachtung. Im hessischen Darmstadt soll bis 2024 ein Verkehrsknoten zur „Holländischen Kreuzung“ umgebaut werden. Ein Modellprojekt – warum dauert das so lange?
Ja, vielleicht ein Modellprojekt! Wenn man sich die niederländische Kreuzung zum Vorbild nimmt und sie dann sogar deutschlandweit ausrollen möchte, dann ist das ein große Aufgabe. Dabei kommt es zu einem interessanten Aufeinandertreffen unterschiedlicher Philosophien.
Das Thema Verkehr wird in den Niederlanden in einer Mischung von Theorie und Pragmatismus angegangen. Wir haben, vereinfacht gesagt, ein Lehrbuch voller Maßnahmen und wenn in einer bestimmten Situation eine Maßnahme passen könnte, probieren wir sie in den meisten Fällen einfach aus. Wenn die Lösung funktioniert, wird sie ausgebaut. Wenn nicht, dann lassen wir es. Eine Art begründetes Trial & Error.
Wie geht man Problemstellungen deiner Wahrnehmung nach in Deutschland an?
In Deutschland besteht aus meiner Sicht eine stärkere akademische Erwartungshaltung. Das Vorgehen muss erst einmal in einer Testumgebung wissenschaftlich untersucht werden, dann wird ein Pilotprojekt umgesetzt, das zwei bis drei Jahre beobachtet wird und erst, wenn genau erfasst wurde, was alles passieren könnte, wird es weiterentwickelt. Aber dann kann es im großen Maßstab angewandt werden.
Und welches Vorgehen hat sich bei Verkehrsmaßnahmen am ehesten bewährt?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Beide Vorgehensweisen haben ihre Vorteile. Vielleicht überwiegen in kleineren Projekten eher die Vorteile einer pragmatischeren Herangehensweise, bei großen, landesweiten Projekten die des akademischen Vorgehens.
Es ist nicht leicht, sich von einer vorherrschenden Mentalität freizumachen. So kommt es bei uns in den Niederlanden vor, dass wir einer komplexen Fragestellung zu pragmatisch begegnen und dann nachsteuern müssen. In Deutschland ist es womöglich so, dass kleinteiligere Projekte einen akademischen Überbau bekommen, die sie nicht brauchen – und auch hier muss dann nachgesteuert werden.
Da kommst du als niederländischer Radverkehrsexperte ins Spiel – was ist dabei deine besondere Rolle?
(Lacht.) Ich sehe mich, überspitzt gesagt, als den ‚verrückten‘ Holländer, der alles sagen darf. Wenn ich aus der niederländischen Perspektive und meiner Erfahrung eine Maßnahme vorschlage, verleiht ihr das häufig eine andere Akzeptanz und wird sie vielleicht doch wieder interessant, auch wenn sie im Vorfeld schon einmal verworfen wurde oder noch gar nicht auf den Tisch kam.
Was sind die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Planungsmentalitäten, wenn wir auf eine mögliche Einführung geschützter Kreuzungen in Deutschland schauen?
Wenn ich als Akademiker ein komplexes Projekt vor mir habe, dann sehe ich mir ähnliche Großprojekte an, um aus deren Struktur, den Daten und Erfahrungen zu lernen. Das könnte zum Beispiel ein bereits realisiertes Projekt im Auto- oder Bahnverkehr sein. Allerdings sind hier die Faktoren meist offensichtlicher oder einfacher zu berechnen – etwa die Anzahl der Verkehrsteilnehmer*innen, welche Wege sie nehmen, welche Geschwindigkeiten erreicht werden oder was die Auswirkungen auf Naturschutzgebiete sind. Die meisten Radprojekte sind aber eben keine Großprojekte und deshalb liegen dafür selten Daten vor.
Wie sieht das bei planerischen Aufgaben im Stadtverkehr aus?
Da liegen ganz andere Bedingungen vor. Die Faktoren sind weicher und es treffen eine Vielzahl von Mobilitätsformen in allen möglichen Kombinationen aufeinander – Fußgänger*innen, Rad- und Lastenradverkehr, E-Roller, Autos, Straßenbahnen oder Busse. Hier ist eine schrittweise pragmatische Herangehensweise eventuell vielversprechender als die akademische, die man zum Beispiel beim Ausbau der Autobahn anlegen würde.
Ist eine pragmatische Umsetzung denn auch schneller?
Nein, nicht unbedingt. Komplexe Verkehrsmaßnahmen umzusetzen dauert überall lange – auch in den Niederlanden. Wenn wir eine geschützte Kreuzung bauen, kann das auch bis zu zehn Jahre oder noch länger dauern, bis alle erforderlichen Maßnahmen schrittweise baulich umgesetzt wurden. Für solche Projekte braucht es planerische Begeisterung und Kapazität, das Geld muss da sein und es braucht den politischen Willen, ins Unbekannte vorzustoßen.
Verbesserungen können meistens schon mit geringem Aufwand erzielt werden. Etwa, indem Fahrbahnmarkierungen verändert, Ampelschaltungen an die reale Situation angepasst und Fahrspuren durch Aufsteller getrennt werden. Ein schönes Beispiel sind die vielen Pop-up-Bikelanes, die während des ersten Corona-Lockdowns in vielen Städten auf der ganzen Welt kurzerhand provisorisch eingerichtet wurden.
Wenn du als beratender Experte zu einem Projekt hinzugerufen wirst, worin besteht dann deine Aufgabe?
Ich bin von Haus aus Raumplaner und habe die Infrastruktur insgesamt und die verschiedenen Interessensgruppen im Blick. Ich setze mich mit den Akteur*innen zusammen und wir erörtern die Wünsche und Erwartungen. Dann rede ich mit den Fachplaner*innen, die sich um die Maßnahmen kümmern, zum Beispiel für eine ganz konkrete Kreuzung.
Und daraus entsteht ein Plan…
Exakt – in Holland spricht man von „verfestigten Belangen“. Das heißt, ein Plan spiegelt die Bedürfnisse der beteiligten Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. Der Plan kann heute sehr gut sein, aber in ein paar Jahren passt er vielleicht nicht mehr zu den veränderten Bedürfnissen. Grundsätzlich gilt: Wenn es mir nicht gelingt, die Gegenstimmen von meinem Plan zu überzeugen, wird er schlicht nicht umgesetzt. Deshalb muss man zu Beginn gründlich überlegen, wer alles betroffen sein könnte und alle an einen Tisch bekommen.
Kannst du ein Beispiel nennen, wo durch Kommunikation ein kritisches Projekt doch noch umgesetzt wurde?
Wir haben einen Radschnellweg in Beuningen in der Nähe von Nijmegen in den Niederlanden geplant. Interessengemeinschaften um eine Grundschule wollten diesen zunächst nicht. Schnelle Radler*innen und der Schulweg für die Kinder hat für sie nicht zusammengepasst – verständlich. Wir sind in die Gespräche mit ihnen gegangen und haben ihre Bedenken aufgedeckt. Es gab Befürchtungen, der Raum, auf dem die Eltern ihren Kindern vor der Schule ein Küsschen mitgeben, könnte zu knapp werden. Die Wünsche an ausreichend Platz zwischen Radweg und Schule wurden planerisch berücksichtigt und so konnte die Etappe des Radschnellwegs umgesetzt werden.
An einer anderen Stelle sollte der Radweg über eine Brücke und dann eng an den Gärten bestehender Einfamilienhäuser vorbeigeführt werden. Das wollten wiederum die Anwohner*innen nicht, die ihren Hausfrieden gefährdet sahen. In Abstimmung mit der Kommune wurden dann Sichtschutzhecken gepflanzt und so konnte schließlich auch diese Wegetappe realisiert werden.
Vielen Dank für das Gespräch, Sjors!
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Sjors van Duren ist niederländischer Raumplaner und Berater für Nachhaltige Mobilität bei Royal HaskoningDHV in Amersfoort. Als Fachmann für Fahrradmobilität betreute er seit 2008 zahlreiche Radverkehrsprojekte in den Niederlanden, aber auch in Deutschland und anderen Ländern. Über die Dutch Cycling Embassy ist der Experte darüber hinaus in weiteren Projekten aktiv.