„Die Verkehrswende entscheidet sich in den Städten.“
23.06.2021 | Mobility
Dr. Stefan Gössling ist der Kopf des T3 Think Tank. Das Forschungsinstituts befasst sich, unterstützt durch Riese & Müller, mit den theoretischen und angewandten Fragen der Mobilität. Stefan erklärt uns in 5 Thesen, warum die Verkehrswende jetzt kommen muss – und welche Rolle E-Bikes und Cargo-Bikes dabei spielen.
1.) Für das Autofahren bezahlt die Gesellschaft – vom Fahrradfahren profitiert sie.
Wenn die Menschen die realen Kosten des Autofahrens kennen würden, zögen es viele gar nicht erst in Betracht von Hamburg nach München mit dem PKW zu fahren. Ein Autokilometer kostet die Gesellschaft in Deutschland durchschnittlich 27 Cent, während ein gefahrener Kilometer mit dem Fahrrad 30 Cent einbringt. Fahrradfahren sollte also von der Politik unterstützt werden.
Aber auch privat ist Autofahren teuer – insbesondere, wenn man die Kosten des Autobesitzes auf ein ganzes Leben hochrechnet. Das haben wir vom T3 Think Tank gemacht und werden in Kürze spannende Ergebnisse veröffentlichen. Sie geben Anlass, die Verkehrsmittelwahl grundsätzlich zu überdenken.
2.) Eine klimaneutrale Mobilität braucht individuelle Lösungen.
25 Prozent der gesamten Emissionen entfallen auf den Transport. Um den Klimawandel zu stoppen, müssen die Gesamtemissionen innerhalb von 30 Jahren – bis 2050 – auf 0 fallen.
Mobilität ist höchst individuell: Während die eine Person vielleicht ständig fliegt, fährt die andere ausschließlich Fahrrad. Der Unterschied des ökologischen Fußabdrucks ist immens. Aus diesem Grund muss der Blick über das Systemische hinausgehen – und die bzw. den Einzelne*n betrachten.
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81 Prozent aller Haushalte sind mit dem Auto unterwegs. Und nicht nur das – es gibt auch immer mehr Autos pro Haushalt. Netto kommen in Deutschland jährlich über eine Million Fahrzeuge dazu. Deshalb haben wir auch seit 25 Jahren konstante Emissionen im Autoverkehr.
Schreibt sich diese Entwicklung fort, können wir das „net zero“-Ziel der internationalen Staatengemeinschaft im deutschen Verkehr unmöglich erreichen.
3.) Deshalb muss jede zweite Straße eine Fahrradstraße sein.
Weil unser Problem überwiegend ein individuelles ist, können wir es nicht allein durch technische Innovationen lösen. Wir müssen unser Verkehrsverhalten ändern und den Trend der vergangenen Jahrzehnte zu immer mehr Autos und Flugreisen brechen.
Das geht nur, wenn wir attraktive Alternativen aufbauen. Wir brauchen einen stabilen und verlässlichen öffentlichen Nahverkehr und eine städtische Infrastruktur, die vorrangig auf Fahrrad- und Fußgängerverkehr ausgerichtet ist. Eigentlich muss jede zweite Straße eine Fahrradstraße sein.
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Im Rahmen der üblichen Distanzen von etwa 5 Kilometern in deutschen Städten kommt man damit in kurzer Zeit an jeden Ort. Dazu braucht es noch nicht einmal unbedingt ein E-Bike.
Dass ein Großteil der Fahrten mit dem Fahrrad zurückgelegt werden kann, ist ebenfalls belegt. Freiburg kommt zum Beispiel auf 34 Prozent, die Niederlande insgesamt auf fast 27 Prozent.
Bis 2050 dauert es nicht mehr lange. Vor allem, wenn wir uns vor Augen führen, dass – selbst unter den extremen Bedingungen einer Pandemie – längst nicht alle Kommunen bereit waren, sich für vorübergehende Pop-up-Radwege einzusetzen. Es ist also Zeit, dass Städte vorangehen, um mehr für den Fahrradverkehr zu tun.
Die Frage ist, ob die Politik die notwendigen Maßnahmen umsetzen will, aber die Verkehrswende wird sich in den Städten entscheiden.
4.) Das E-Bike ist für mittlere Distanzen die optimale Lösung für Pendler*innen.
Deutsche Städte ertrinken im Pendlerverkehr. Der Raum wird kostbarer und teurer: Viele können sich das Leben in der Innenstadt nicht mehr leisten und werden nach außen ins Umland verdrängt. Es entstehen lange Anfahrtswege und in den Stoßzeiten kommt es zu einem alles verstopfenden Pendlerverkehr.
Auf Strecken mit einer Distanz von mehr als 10 Kilometern bieten sich deshalb E-Bikes an. Aber damit diese Form des Pendelns für noch mehr Menschen attraktiv wird, muss die Infrastruktur weiter verbessert werden.
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- In Peking gibt es beispielsweise Kreisverkehr für Radfahrer über der Straße. Kein Radfahrer muss an der Ampel warten und die Verkehrsträger bleiben getrennt.
- In Kopenhagen lautet heute die zentrale Planungsmaxime, die Durchschnittsgeschwindigkeit für den Radverkehr zu erhöhen.
Dass es sich lohnt, auf Fahrradverkehr zu setzen, beweisen auch viele Gesundheits-Studien: Menschen, die auf das Fahrrad umsteigen, bleiben meist dabei.
Fahrradfahren hat viele positive Effekte. Natürlich physische, weil Bewegung die Gesundheit stärkt, aber auch mentale Gesundheitseffekte: die kleinen Glücksmomente, die sich beim Fahrradfahren einstellen. 1
5.) Das Cargo-Bike spielt eine entscheidende Rolle für den Lieferverkehr.
Wir leben in einer Online-Bestell-Kultur. Sie bringt heute den massiven Lieferverkehr in die Städte.
Der Lieferverkehr muss auf kleinere Transporteinheiten umstrukturiert werden. Motorisierte Lieferdienste sollten zu Knotenpunkten geleitet werden, von denen aus Cargo-Bikes oder Porter starten und die Güter zum Ziel bringen. Das ist wesentlich effizienter als die riesigen Lieferwagen in die verstopften Innenstädte zu schicken.
Das bringt einen großen Bedarf mit sich, Dienstleistung umzudenken. Viele Lieferdienste sehen das Thema noch als zu kosten- und personalintensiv. Das liegt an der vorherrschenden Vorstellung, dass ein großer Lieferwagen mit nur einem*r Fahrer*in günstiger sei als drei Lieferant*innen auf Cargo-Bikes.
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Etwa für die Verkehrsteilnehmer*innen, die in den USA „soccer mums“ genannt werden, also Eltern und häufig Mütter, die ihre Kinder mit dem Auto zum Sportverein fahren und wieder abholen.
In Kopenhagen gab es eine Kampagne, die „soccer mum“ auf Dänisch umdefinierte – als jemand, der die Kinder mit dem Cargo-Bike zur Kita bringt. Damit eröffnen sie übrigens auch ihren Kindern haptische und audiovisuelle Dimensionen der Wahrnehmung und bringen ihnen Fahrradfahren als natürliche Fortbewegung und Kulturform bei.
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Stefan Gössling hat Geografie und Biologie in Münster studiert, dann in Humanökologie im schwedischen Lund promoviert. Seinen Postdoc in Humangeografie hat ihn nach Freiburg geführt, bevor er, erneut in Lund, eine Professur annahm.
In seiner Arbeit stieß er aufgrund administrativer Hürden immer wieder an die Grenzen der Effizienz universitärer Forschung. Deshalb gründete er eine eigene unabhängige Forschungseinrichtung: den T3 Think Tank.
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Das Ziel: Möglichst viele Mittel, bereitgestellt von Förderern wie Riese & Müller, in Forscherstellen zu investieren und wissenschaftlich relevant zu sein. Relevante Forschung bedeutet unter anderem, dass die nationalen und internationalen Medien darüber berichten.
Der Fokus der wissenschaftlichen Arbeit ist weit, über das gesamte Feld der Transportation hinweg. Entsprechend unterschiedlich sind die Themen, mit denen sich die Forscher*innen-Teams beschäftigen:
Zum Beispiel mit den politischen Möglichkeiten, den Flugverkehr zu steuern oder Emissionen im Schiffsverkehr zu mindern, wie sichere Schulwege aus der Perspektive der Kinder aussehen könnten oder wie die Mobilität älterer Menschen auf dem Land gestaltet werden kann.
1 Gössling, S., Nicolosi, J. and Litman, T. 2021. The health cost of transport in cities. Current Environmental Health Reports.