Bienvenue à Paris: Willkommen in der Stadt, die’s einfach macht.
15.08.2023 | Mobility
Nicht ganz über Nacht, aber in atemberaubendem Tempo hat die französische Hauptstadt fertiggebracht, wovon zahlreiche Metropolen nur träumen: Paris hat den öffentlichen Verkehrsraum neu verteilt, den motorisierten Verkehr auf Hauptrouten reduziert, neue Lebensräume mitten in der Stadt geschaffen und das Fahrradfahren im Alltag für tausende Menschen attraktiv gemacht.
An der Rue de Rivoli, unweit der Seine zwischen Rue de Sévigné und Place de la Concorde, zeigt sich eindrucksvoll, auf welche Weise Paris sich neu erfunden hat. Wer hier stehen bleibt, die Augen schließt und die Ohren spitzt, hört: kein Dröhnen und Brummen von Autos, Mofas oder Kleinlastern.
Die Motorengeräusche und das Gehupe sind einem Soundmix aus Kettenschaltung, Fahrradklingeln und dem Freilauf rollender Citybikes gewichen. Nur hier und da surrt ein E-Scooter, ein Taxi oder ein Bus vorbei.
Es hat sich etwas verändert. Der typische Verkehrslärm einer Großstadt ist an dieser ehemals stark befahrenen Straße praktisch verschwunden. Auf einmal vernimmt man sogar wieder die Gespräche der Menschen.
Denn die Rue de Rivoli, eine gut drei Kilometer lange, schnurgerade Geschäftsstraße und eine der wichtigsten Querachsen von Paris, ist seit Sommer 2020 autofrei. Die Straße – und mit ihr viele andere in Paris – wurde umgewidmet zu einer massiven doppelspurigen Fahrradroute. Der übrige Verkehr aus Taxis, Bussen und Lieferwagen teilt sich eine Spur.
Diese Neuverteilung des Verkehrsraums ist Teil einer ganzen Reihe an Maßnahmen, die Paris im Rahmen des Plan Vélo umsetzen will. In den kommenden Jahren soll der nicht lebensnotwendige Durchgangsverkehr aus dem Stadtzentrum verbannt werden. Es wird erwartet, dass dadurch etwa die Hälfte aller Autofahrten durch die Innenstadt wegfallen wird.
Andere machen langwierige Pilotprojekte – Paris schafft Fakten
Das Erstaunliche an Paris ist, wie schnell dieser Wandel vonstattenging. Menschen auf Fahrrädern tauchten buchstäblich über Nacht auf, sobald geeignete Radwege ad hoc angelegt waren. Es sieht so aus, als würden viele davon dauerhaft bestehen bleiben. Was hier in Paris geschehen ist, war aber kein Zufall, sondern das Ergebnis einer klaren Vision, von stringenter Führung und menschengemachten Entscheidungen.
Klare Treiberin dieses Wandels ist Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Sie setzt sich unermüdlich für die Stadt der kurzen Wege ein, in der die Pariser alles, was sie brauchen, innerhalb von 15 Minuten erreichen können.
Die Vision: Ein 100 % fahrradtaugliches Paris, das noch dichter, gemischter und vernetzter ist.
Die Mittel: breitere Bürgersteige, neue ausschließliche Fahrradstraßen, Schulhöfe, die als Wochenendgärten dienen, Kreuzungen, die zu Nachbarschaftstreffpunkten werden und Autoparkplätze, die Fahrradstellflächen weichen.
Paris hat begriffen: Die Stadt muss Platz bieten für die Menschen, nicht für Autos. In der Rue de Rivoli ist das schon gelungen, anderswo hakt es noch, es geht nicht überall im gleichen Tempo voran. In vielen Vierteln und auf Routen, die von Autos dominiert werden, fehlt Fahrradinfrastruktur noch komplett. Zusätzlich führen Ungenauigkeiten in der Verkehrsführung und Beschilderung noch zu Irritationen. Probleme, die der schnellen Veränderung der Infrastruktur geschuldet sind.
Denn während andere Städte mühsam langwierige Pilotprojekte durchführen, schafft Paris Fakten. Die mögen nicht immer ideal sein. Aber Städte verändern sich dynamisch, mit den Bedürfnissen der Menschen und dem Verkehr, und sie verändern sich nicht über Nacht.
Paris lässt sich davon nicht aus dem Konzept bringen und macht einfach: das Bestmögliche.
Interview
„Das Fahrrad macht unabhängig.”
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Paris hat in den letzten Jahren einen dramatischen Wandel erlebt. Wann ist dir das zum ersten Mal bewusst geworden?
Als die Menschen damals während der Lockdowns massenweise von öffentlichen Verkehrsmitteln aufs Fahrrad umgestiegen sind. Die Corona-Pandemie hat die Mentalität der Menschen in den Großstädten ganz klar verändert. Das merkte ich zuerst beim Fahren durch die Stadt, später dann bei mir im Laden. Die Kund*innen kamen mit ganz neuen Anforderungen zu mir.
Wie sahen diese neuen Anforderungen aus?
Sie wollten kaum noch Bikes für Weltreisen oder Radurlaube. Stattdessen boomten Fahrräder für die Stadt und fürs Pendeln zur Arbeit, für Kurzstrecken also. Es kamen auch vermehrt Leute, die ihr Auto ersetzen wollten oder eine Alternative zu Metro und Bus suchten. Einige haben im Fahrrad auch ein Fortbewegungsmittel wiederentdeckt, das sie unabhängiger von gesellschaftlichen Veränderungen und Krisen macht. Außerdem beobachten wir, dass die Menschen am liebsten ihre ganze Familie auf dem Rad mitnehmen würden – Cargo-Bikes sind wahnsinnig beliebt; das Multicharger ist zurzeit unser meistverkauftes Bike. Und der Trend geht ganz klar zu E-Bikes.
Wie hat sich die Pariser Fahrrad-Community verändert?
Ausgelöst durch Streiks im öffentlichen Nahverkehr war die Fahrrad-Community schon vor der Pandemie größer geworden, doch während der Corona-Lockdowns explodierte sie geradezu. Seitdem scheint sie stetig zu wachsen. Ein Grund ist mit Sicherheit das erstaunliche Netz an Radwegen, das Bürgermeisterin Anne Hidalgo geschaffen hat. Die Politik hat wirklich dazu beigetragen, dem Fahrrad in der Stadt mehr Raum zu geben. Ich denke, der Trend ist ungebrochen und hängt mit einem Mentalitätswandel zusammen.
Stell dir vor, du könntest ein Jahr lang Bürgermeister von Paris sein. Was würdest du als Erstes ändern?
Ich würde zuallererst für mehr Sicherheit im Straßenverkehr sorgen. Mit all den Rollern, E-Scootern und Skateboards wird es zu einer echten Herausforderung, dass alle sicher unterwegs sind. Viele Radfahrer*innen beklagen sich darüber, dass sie sich auf Radwegen nicht wohl und geschützt fühlen. Die Mentalität der Menschen im Straßenverkehr zu ändern und die Sicherheit zu optimieren wäre also meine Priorität. Die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen für das Radfahren entscheiden, erfordert auch eine gewisse Anpassung derjenigen, die schon lange mit dem Rad unterwegs sind. Jede*r Radfahrer*in muss da das eigene Tempo finden. Und ein großes Augenmerk muss auf Fußgänger*innen gelegt werden, denn sie können vielerorts die Straßen nicht mehr sicher überqueren.
Was ist deine persönliche Mission?
So viele Menschen wie möglich auf das Fahrrad zu bringen und dafür genau die richtige Beratung zu bieten. Ich fahre Rad, weil Radfahren Freiheit bedeutet!
Dieses Stadtporträt ist Teil des Riese & Müller Verantwortungsberichts 03.